Entspricht eine Kunsthalle noch den heutigen Anforderungen und Bedürfnissen zeitgenössischer Kunstvermittlung und der Präsentation von Kunst? Statt eine einfachen Antwort zu suchen, fächerten wir die Fragestellung in viele Fragen auf und richteten diese an internationale Künstler/innen, Kurator/innen, Theoretiker/innen etc. Im Rahmen der für die Gründungsphase der European Kunsthalle charakteristischen konzeptionellen Vernetzung und Dezentralisierung entstand so zwischen 2005 und 2007 das Projekt „Die Frage des Tages“.
Welche Gründe könnte es für den Wunsch der Bürger/innen nach einer physischen, greifbaren Kunsthalle geben?
Ilka Becker, Kunstwissenschaftlerin, Köln
Greifbar zu sein wäre für mich zunächst gar nicht die produktive Frage: greifen, zugreifen und begreifen klingt ein wenig nach vorgegebener, konsumierbarer Sinnhaftigkeit, die durch eine institutionelle Form garantiert werden könnte und in der man dann bequem Platz nimmt. Eine Kunsthalle, die wie die European Kunsthalle ein dezentrales Konzept verfolgt, sollte aber eher eine Bühne sein, auf der man sich dazu entscheidet, etwas Ungreifbares sichtbar zu machen (das heißt zu produzieren), das in der eigenen Position aufklafft – als Rezipient/in und gleichzeitig Produzent/in von Zeichen, sozialen Codes, Material und Situation innerhalb des Systems Kunst. Die künstlerische, kuratorische, theoretische und kritische Arbeit, die sich in einem solchen Feld durchführen lässt, ist doch vor allem dann spannend, wenn sie weniger der Selbstvergewisserung bürgerlicher Subjektivität dient (nach deren Kriterien Kunstrezeption heutzutage ohnehin nicht mehr funktioniert), als dass sich mit ihr im besten Fall eine Art strittiger Produktionsgemeinschaft herausbildet, an der unterschiedliche Akteure teilhaben können. Ein konkreter Ort kann dafür ein sehr wichtiger Faktor sein.
Wie wichtig ist funktionale Architektur für das Kuratieren?
Adam Budak, Kurator Kunsthaus Graz
Zweifellos spielt funktionale Architektur eine signifikante Rolle beim Kursieren von Ausstellungen. Sie tut es vor allem in praktischer Hinsicht – bei der Organisation des Raumes, der technischen Erschließung der Ausstellungen, als Leitlinie ihrer Argumentation usw. Ich bin in jedem Fall an Situationen interessiert, in denen die Funktion der Architektur darin besteht, Ausstellungsinszenierungen und kuratorische Sichtweisen herauszufordern. Seit über zwei Jahren arbeite ich nun in einem (bioamorphen) Ausstellungshaus, dessen architektonisches Angebot vor allem auf Dysfunktionalität oder einer gewissen Groteske traditioneller Funktionalität basiert. Hier verstehe ich diese „Schwierigkeit“ einerseits als Herausforderung (für alle Beteiligten: den Künstler/innen mit einem Kunstwerk, den Kurator/innen mit einem Konzept und das Publikum mit Rezeptionsqualitäten), andererseits als Anregung (zu ortsspezifischer Arbeit und zu einer durch Raum, der zur Disposition steht, beeinflusste Programmgestaltung). Indem sie das Kunstwerk permanent neu definiert und dich verstärkt für räumliche Bedingungen sensibilisiert, hält dich eine solche dysfunktionale Architektur stets wachsam. Mit wem oder was auch immer sie antrifft, geht sie eine spannende Partnerschaft ein, erneuert deine Rezeptionshaltungen und verbündet sich so mit dir, eine besondere kollektive Identität zu inszenieren. Dysfunktionalität in diesem Sinne agiert als produktive und bereichernde Unstimmigkeit. Wie alle dominanten Partner beschwert sie dein Leben – das ist wahr –, aber letztlich bringt sie viel Freude und kreative Genugtuung.
Wie definiert sich eine Kunstinstitution in Bezug auf ihr Publikum?
Chris Dercon, Direktor Haus der Kunst, München
Es gibt nicht einfach ein „Publikum“. Die Idee des „Publikums“ existiert nicht mehr. Sie war übrigens eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – so wie die Idee des Publikums auch ihren allerersten großen Auftritt in der Malerei des 19. Jahrhunderts hatte. Heute sind wir mit vielen verschiedenen Arten des Publikums konfrontiert – beispielsweise mit vielen verschiedenen Erwartungen. In einer holländischen Zeitung habe ich einmal gesagt: „Traue dem Publikum nicht“ – eine Formulierung, für die ich auch Jahre später noch teuer bezahlen musste. Was ich meinte war, dass das Publikum sich seiner selbst nicht mehr sicher ist: Kann es seine (Un-)Sicherheit auf uns projizieren und andersherum? Das würde bedeuten, dass wir uns konstant selbst fragen müssten: Welches Publikum fühlt sich angesprochen, wenn wir welche Maßnahmen wie ausführen? In der Tat müssen wir unsere Zielgruppe jedes Mal neu aufbauen. Das Publikum ist daher keine gegebenes – es muss erobert werden. Und um die Sache noch komplizierter zu machen: Es scheint auch eine generelle Verwirrung darüber zu geben, was „öffentlich“ und was „privat“ ist und worin der Unterschied zwischen „öffentlichen“ und „privaten“ kulturellen Angelegenheiten und Anliegen besteht. Kommerzialisierung im Feld der Kultur beispielsweise stellt sich selbst schnell als eine Art „öffentliche Sphäre“ dar: Die Konturen des öffentlichen Raums sind bereits restlos aufgeweicht. Und unsere einzige, von unseren Auftraggebern und Trägereinrichtungen vorgeschlagene Waffe zur Gegenwehr scheint traurigerweise die Veröffentlichung hoher Besucherzahlen zu sein. Aber Besucherzahlen sind etwas sehr anderes als Besucher-Argumente. Oder aber nicht?
Inwieweit hat das akademische Denken Platz im musealen Ausstellungsbetrieb?
Charles Esche, Direktor Van Abbemuseum, Eindhoven
Ein Museum ist kein leeres Gefäß, das es mit Kunst zu füllen gilt. Stattdessen müssen wir seine Identität, seinen Möglichkeitsraum, seine Ideologie thematisieren – die alle anwesend sind, egal ob wir uns dafür entscheiden, sie wahrzunehmen oder nicht. Um diese Begriffe zu aktivieren und nicht einfach überkommene Definitionen zu akzeptieren, sind Denkprozesse notwendig. Wenn also „akademischen Denken“ Reflexion, Befragung und Artikulation der Praktiken eines Museums meint, dann müssen wir ihm viel Zeit und Raum widmen. Wir müssen Systeme entwickeln, in denen Museumsarbeiter/innen die Möglichkeit haben, neue Betrachtungsweisen von Kunst und ihren Beziehungen zur Gesellschaft zu erlernen. Wir müssen neue Modelle der öffentlichen Präsentation und Produktion entwickeln, die selbstreflexive Mechanismen und Gelegenheiten zum kritischen Denken umfassen. Wir müssen letztlich das Museum zu einem Ort des Stellens schwieriger Fragen und des Formulierens komplexer Antworten machen. Aber natürlich hat „akademisches Denken“ auch eine andere Bedeutung, die des unreflektierten Kopierens bestehender Modelle. Dem sollte kein Platz innerhalb der Praxis von Museen zeitgenössischer Kunst eingeräumt werden.
Kann die Veränderung der gesellschaftlichen Trägerschaften von Kunstinstutionen eine Transformation der Institution von innen heraus bewirken?
Anselm Franke, Direktor Extra City, Antwerpen
Ich denke, das geschieht so oder so. Der Begriff der Bildung oder auch der Öffentlichkeit, auch die Kulturtechniken der Hegemonie verwandeln sich – und die Kunstinstitution rückt in die Nähe des Tourismus und des Marketings einerseits oder sie muss in Zukunft zu einem „Center for Creativity“ werden, in dem die gesellschaftliche Produktivkraft „Kreativität“ entwickelt, trainiert oder eben im Zweifelsfall auch therapeutisch „behandelt“ wird. Die überkommene Trägerschicht der Kulturinstitution kann diese nicht mehr langfristig legitimieren. Ihr Begriff der öffentlichen Sphäre ist korrumpiert und sich hat zunehmend weniger Möglichkeiten der politischen Einflussnahme. Die neue Trägerschicht aber behandelt diese weitgehend wie Luxus-Erweiterungen von Kunstmessen – und das bleibt ja auch der Kulturpolitik nicht verborgen, so dass dringend eine grundlegende Debatte über das Verhältnis öffentlicher Institutionen zu einem spekulativen Markt ansteht. Das gilt natürlich nicht nur für die für das Experiment und die Innovation zuständigen Institutionen ohne Sammlung, sondern auch für Museen, die immerhin noch das Argument des kulturellen Gedächtnisses ins Feld führen können.
Sind öffentlich finanzierte Institutionen für Gegenwartskunst nur noch Statthalter für den privaten Kunstmarkt?
Susanne Gaensheimer, Kuratorin, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
Nein, keineswegs, und es darf auch nie so weit kommen. Selbstverständlich ist die Gefahr sehr groß, dass aufgrund der permanenten Reduktion öffentlicher Gelder die Institutionen in eine finanzielle Abhängigkeit von kommerziellen Galerien und privaten Sammlern geraten. Kunstproduktion und Ausstellungen werden immer kostspieliger, die Preise auch der ganz jungen Kunst steigen in irrationale Höhen, und gleichzeitig sind die Museen und öffentlichen Institutionen immer mehr den staatlichen und städtischen Konsolidierungsmaßnahmen ausgeliefert. Es ist daher dringend notwendig, neue Wege einer produktiven Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Institutionen und privatem Kunstmarkt zu entwickeln. Viele Galerie beispielsweise sind sich bewusst, dass sie von Museumsausstellungen profitieren und daher auch daran interessiert, sich an der Produktion von Kunstwerken und Publikationen finanziell zu beteiligen. Und immer mehr private Sammler möchten ihre Werke in öffentlichen Institutionen unterbringen, was zu sehr fruchtbaren Kooperationen führen kann – wobei dies nur dann wirklich sinnvoll ist, wenn der Sammler bereit ist, seine Werke als verbindliche Dauerleihgabe zur Verfügung zu stellen. Doch ist es gerade bei solchen Überschneidungen die vorderste Aufgabe des Museums, inhaltlich und programmatisch autonom und unkorrumpierbar zu bleiben und seine sammlungsspezifischen Konzepte unbeeinflusst von wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Es ist dringend notwendig, dass Staat und Kommunen endlich die Notwendigkeit eines interessenfreien, öffentlichen Raums für die Produktion und Rezeption von Kunst erkennen und diesen durch eine entsprechende Finanzierung gewährleisten.
Sind Kunsthalle heute noch zeitgemäß?
Liam Gillick, Künstler
Nein, eine Kunsthalle ist kein zeitgenössisches Modell. Es besteht aber in jedem Fall die Möglichkeit, den Gebrauch des Wortes in Bezug auf ein revidierten Gefüge fortzusetzen, und sei es nur, um den Verlust des Potentials eines bedeutsamen öffentlichen Raumes – eines frei flottierenden Signifikanten mit einer bestimmten historischen Bedeutung – zu vermeiden. Auf jeden Fall zu vermeiden ist die bloße Aufrechterhaltung eines Wortes in Beziehung zu einem Gefüge, wenn es in Hinblick auf die Beziehung zwischen Namen und Gefüge nur als parodistisch oder paradox verstanden werden kann. Eine Kunsthalle, die eine machtvolle Rolle im kulturellen Bereich vermeidet, sollte in der Tat einen anderen Namen tragen. Wenn man eine spezifische, historisch determinierte Bedeutung beziehungsweise einen Raum innerhalb der Kultur einnehmen möchte, sollte man es hingegen weiterhin Kunsthalle nennen. Wenn man neu anfangen möchte, sollte man den sozialen / historischen / politischen Raum einer Kunsthalle besetzen, ohne dies als Kunsthalle zu bezeichnen. Gleichzeitig sollte man aber auch – mit gesetzlichen oder anderen Mitteln – sicherstellen, dass es keine andere Institution in der Stadt gibt, die sich Kunsthalle nennen kann. Denn wenn man etwas ersetzen will, darf man anderen nicht gestatten, den intellektuellen Raum, den man transzendiert, einzunehmen.
Brauchen wir noch statische Museumsgebäude für die Präsentation von Kunst angesichts partizipatorischer Ansätze, beweglicher Strukturen und konzeptueller Arbeiten?
Krist Gruijthuijsen, freier Kurator
Nein, das brauchen wir sicherlich nicht. Auch wenn ich sehr für das architektonische Element institutioneller Rahmenbedingungen wie das des Museums bin und große Bedeutung darin sehe. Aber ich denke nicht, dass wir jetzt noch ein neues Gebäude voll mit „totem“ Material in den Ausstellungsräumen brauchen. Die European Kunsthalle könnte ein großartiges Beispiel für das gewandelte Verständnis einer Kunsthalle sein, das die Rahmenbedingungen der (Re-)Präsentation von Kunst diskutiert. In diesem Sinne könnte sie besser als Gedanke denn als etwas Konkretes funktionieren. Ein alles überschauender „think-tank“, der nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist.
Haben Formen der Institutionalisierung einen limitierenden Effekt auf unabhängige Projekte?
Vit Havránek, Projektleiter tranzit.cz, Prag
Ich verstehe ein „unabhängiges Projekt“ als eine Aktivität, bei der finanzielle oder personelle Ressourcen von innen her durch die Beteiligten und ohne große Unterstützung vom Staat, der Stadt oder einer anderen Körperschaft von „außen“ definiert werden. Eine solche Aktivität ist das Resultat von bürgerlichem Enthusiasmus. Ich stimme Hakim Bey (t.a.z.) zu, dass eine solche Initiative ihre Unabhängigkeit verliert und beginnt in Beziehung zum so genannten allgemeinen Interesse zu agieren, sobald sie offiziell wahrgenommen und anerkannt wird. Darum rät Bey jeder autonomen Zone, temporär zu bleiben. Bestimmte „unabhängige Initiativen“ aber entstehen bereits mit der Hoffnung auf offizielle Anerkennung beziehungsweise Institutionalisierung. Ich denke, dass das auch das Interessanteste an diesem Modell ist: die Beziehung zwischen den so genannten „unabhängigen“ Initiativen und den offizielle institutionellen Strukturen, da sie die Basis aller unabhängiger Projekte ist. Das Bewusstsein für die Institution als eine Art negative Selbstdefinition ist heute eine der wichtigsten Antriebskräfte für Unabhängigkeit. Sehr gute Beispiele dafür können in der Kunst selbst gefunden werden – momentan bei der Konzeptkunst oder Land Art: In bestimmten Fällen dachten KünstlerInnen, dass ihr Programm und die Bedeutung, die sie transportieren, Veränderungen in den Institutionen bewirken könnten. Davon sind aber nur diese interessant, die ihre Strategien angepasst haben und die Institutionen selbst als einen der Gegenstände ihrer Auseinandersetzung thematisiert haben.
Was sind die Orte der zeitgenössischen Kunst?
Jörg Heiser, Autor und Co-Chefredakteur Frieze Magazine
Kunsthallen sind so zeitgemäß wie die Leute, die sie betreiben. Nicht jede, aber fast jede vorgefundene Struktur – erfüllt sie architektonische und urbanistische Mindestanforderungen wie halbwegs zentrale Lage und räumliche Adaptierbarkeit für die Anforderungen zeitgenössischer Kunst – kann zu einem guten Ort zeitgenössischer Produktion und Vermittlung werden, wenn Ideen und ästhetische Erfahrung im Vordergrund stehen, nicht Kulturbürokratie und ökonomische Standortpolitik. Dazu trägt bei, wenn ein relativ kleines Team relativ autonom arbeiten kann und zugleich nicht von lediglich einer Finanzierungs- und Administrationsinstanz kontrolliert wird, sondern selbst die ökonomischen und politischen Bedingungen zumindest mit beeinflussen kann – gemischte Modelle. Vernetzungs- und Workspace-Rhetorik jedoch lenkt oft von den Aufgaben einer angemessenen Vermittlung künstlerischer Produktion ab und überbetont die Rolle der KuratorInnen als DiskursteilnehmerInnen gegenüber den KünstlerInnen. In diesem Sinne: „Show me, don’t tell me“, wie die Scriptwriter sagen. Die europäische Kunsthalle stellt eine einzigartige Chance dar, entsprechend der oben skizzierten Punkte alles richtig zu machen. Alles andere ist ortsspezifisch.
Welche Rezeptionsleistung verlangt eine dezentrale Institution dem Publikum ab?
Tom Holert, Kunstkritiker und Kulturwissenschaftler, Berlin
Im Prinzip keine andere als die, die ohnehin notwendig sind, um sich über die Produktion bildender Kunst zu informieren. Kulturinstitutionen werden als Teil eines Netzwerks von Institutionen wahrgenommen, beansprucht und konsumiert. Diejenige Fraktion des Publikums, die sich – gewissermaßen dem traditionellen Abonnnementprinzip folgend – auf ein Opernhaus, einen Kunstverein, einen Buchclub allein konzentriert und auf diese Weise die eigenen kulturelle Aktivität eingrenzt, ist im Schwinden begriffen. Ausstellungen oder Inszenierungen werden mit anderen Ausstellungen und Inszenierungen in Beziehung gesetzt. Der Kontext der Kunstrezeption ist das Kunstsystem, und dieses System ist – wie der Markt, der es trägt – transnational und dezentral organisiert (sieht man einmal von bestimmten Städten und Leitinstitutionen ab, die als „Zentren“ konstruiert werden). Der Besuch von Kulturinstitutionen ist überdies Teil des touristischen Programms – ob nun in der eigenen Stadt oder anderswo. Zu den Ambitionen angehender oder routinierter „culturati“ gehört es, sich auszukennen, was immer auch bedeutet: zu reisen. Das Dezentrale einer Institution wie der europäischen Kunsthalle, räumlich wie administrativ, entspricht daher einer gewissen Dezentralisiertheit der Subjekte des Kunstbetriebs. Vielleicht werden diese dementierten Subjekte von einer Institution, die sich programmatisch als dezentral entwirft, sogar auf besondere Weise in ihres Subjektivität konstituiert.
Inwieweit sind Besucherzahlen relevant für den Erfolg einer Kunsthalle?
Max Hollein, Direktor Schirn Kunsthalle, Liebighaus, Städelmuseum, Frankfurt
Die Besucherzahl symbolisiert nicht den Erfolg einer Kunsthalle, sie ist aber von größter Bedeutung für den Erfolg einer Kunsthalle. Denn eine hohe Besucherzahl schafft langfristige Freiräume gegenüber den politisch handelnden Auftraggebern und ihrer Öffentlichkeit, sie signalisiert Akzeptanz und verhindert so das Infragestellen von komplexeren inhaltlichen Ausrichtungen. Mit einer hohen Besucherzahl kann man auf die Dauer genau das Programm machen, welches man machen will. Mit einer niedrigen Besucherzahl läuft es auf Dauer genau gegenteilig. Die Leistung in diesem Zusammenhang besteht also darin, mit einem inhaltlich komplexen Programm hohe Besucherzahlen zu erreichen – das ist einer, wenn nicht der absolute Erfolgsmoment einer Kunsthalle.
GIBT ES EINEN ZUSAMMENHANG ZWISCHEN DEM ERFOLG VON KUNSTINSTITUTIONEN UND DER SPEZIFISCHEN MEDIENLANDSCHAFT DER STADT, IN DER SIE ANSÄSSIG IST?
LARS BANG LARSEN, FREIER KURATOR UND KRITIKER
Im Zeitalter der vernetzten, technologischen Stadt ist die Idee der Stadt relativer als zuvor. Und so sehr wie jede Kunstinstitution, die ihren Einflussbereich auf lokaler als auch regionaler, nationaler und internationaler Ebene definiert, reicht der Anspruch der European Kunsthalle über die Grenzen der Stadt hinaus. Aber der größere Teil des Publikums, das eine Kunstinstitution versucht über die Medien anzusprechen, kommt immer noch aus der Stadt, in der sie angesiedelt ist. Es ist offensichtlich, dass Kunstinstitutionen in einer Haupt- oder größeren Stadt typischerweise bessere PR-Möglichkeiten haben als provinzielle, da der „Medien-Schirm“ großer Städte weiter reicht als derjenige lokaler oder regionaler Medien. Am anderen Ende der Medien-Nahrungskette spielt die Etablierung eigener Mikro-Medien-Strukturen – wie eure Internetseite – eine immer wichtiger werdende Rolle. Dies führt zur übergeordneten Frage: Was ist Erfolg? Letztlich hängt der mediale Erfolg davon ab, welche Kriterien man anwendet: Im Kunstbetrieb wie auch in der Popkultur ist Medienerfolg keine Garantie für gehaltvolle Kommunikation. Dennoch spielen die Medien eine wichtige Rolle bei der Kommunikation eines Programms. Doch da unterschiedliche Arten von Medien auch unterschiedliche Wirkung haben, muss man beachten, welche Medien auf welche Weise für die Kommunikation mit dem Publikum geeignet sind; 90 Sekunden im Fernsehen, ein Artikel in der Regionalzeitung oder die Besprechung in einem von Fachleuten als seriös und informiert angesehen Kunstmagazin? Eine Abdeckung durch alle diese unterschiedlichen Arten bietet Schnittstellen zu deinem Publikum, die sich nicht gegenseitig ausschließen müssen.
Was sind die zeitgenössischen Ort der Kunst?
Sven Lütticken, Kunsthistoriker und Kritiker
Die kurze, leicht zynische Antwort wäre: Biennalen und Kunstmessen. Man sollte jedoch di Frage stellen, ob man wirklich „absolument de son temps“ sein sollte, beziehungsweise ob man nicht auch auf eine andere, anachronistische Weise zeitgenössisch und zeitgemäß sein kann. Damit meine ich nicht, dass man sich von aktuellen Entwicklungen abschotten sollte, sondern dass man sie nicht als geschichtliche Naturgewalt betrachtet und passiv hinnimmt. Interessante zeitgenössische Orte der Kunst sind solche, die zwar Aspekte der heutigen Eventkultur aufgreifen, diese jedoch in ein Ausstellungs- und Aktivitätenprogramm integrieren, das am Rande der dominanten Kultur eine offene, aber fokussierte Öffentlichkeit entwickelt. Dazu ist eine gewisse störrische institutionelle und eben auch räumliche Präsenz erforderlich. Dematerialisierte Institutionen, die nur hin und wieder etwas an irgendeinem „interessanten“ Ort organisieren und dann wieder abtauchen, sabotieren die Bildung einer Kunstöffentlichkeit, die sich nicht in Werbung und Hypes erschöpft. Die Institutionskritik hat die Risiken und Nebenwirkungen von „stabilen“ Institutionen wie Museen aufgezeigt, aber nur physisch vorhandene Institutionen können sich unter Umständen zu kritischen Institutionen entwickeln.
Haben statische Institutionen überhaupt noch eine Zukunft?
Florian Malzacher, Leitender Dramaturg und Kurator, steirischer herbst, Graz
Nein. Aber: Warum sind so oft gerade explizite Nicht-Institutionen mit allen Möglichkeiten zur Flexibilität am statischsten? Die Freiheit der freien Szene und Off-Kultur ist oft alles andere als bewegungsfördernd. Egal ob Institution oder Nicht-Institution: Statisches Denken ist künstlerisch und kuratorisch langweilig. Davor schützt die windschnittigste und wandlungsfähigste Struktur nicht. Das Problem ist, dass viele Institutionen durch ihre Architektur einbetoniert sind in fixierte Denkmuster, Ästhetiken, Gesellschaftsbilder. Dazu kommen zählebige Personalstrukturen, festgefahrene Erwartungshaltungen und Politikern, Journalisten und Publikum. Und Faulheit. Statik kann natürlich auch Reibung verursachen. Halt geben. Grenzen und Kontrollmechanismen sichtbar machen. Eine Institution, die vor lauter Flexibilität immer zur Unkenntlichkeit gedehnt wird, ist auch schnell unproduktiv und berechenbar. Statische Institutionen haben keine Zukunft. Aber statische Modelle für nicht-statische Institutionen auch nicht.
Hat das Publikum recht, wenn es zeitgenössische Kunst nicht versteht?
Chus Martinez, Direktorin Frankfurter Kunstverein
Die Nacht dauerte zwanzig Sekunden. Danach wurde sie von einem gewaltigen Blitz beendet: GNAC. Groß, laut, wirklich, von einem Dach gegenüber der Wohnung von Marcovaldo – dem Helden der Arbeiterklasse von Italo Calvino – leuchtend. Aber GNAC ist nur der Teil einer größeren Leuchtschrift: SPAAK-COGNAC, die zwanzig Sekunden aufscheint, dann für weitere zwanzig erlischt, und wenn sie wieder aufleuchtet, kannst du nichts anderes mehr sehen. Der Mond verblasste, der Himmel wurde einförmig. Hat das Publikum recht, wenn es zeitgenössische Kunst nicht versteht? Das ist die Frage, die du mir gestellt hast. Ich wurde einmal damit zitiert, „ja“ darauf geantwortet zu haben. Was ich eigentlich sagte, war, dass das Publikum ernst genommen werden sollte, wenn es so etwas fordert. Es könnte allerdings auch sein, dass es nur das GNAC der Geschichte sieht. Der entscheidende Punkt ist also: Wo ist der Rest unseres Zeichens?
In welcher Weise ist die im Bereich der Kunst artikulierte Institutionskritik für die Gründung neuer Institutionen relevant?
Nina Möntmann, freie Kuratorin und Autorin
Die klassische Teinahme von KünstlerInnen an institutionellen Prozessen ist zielorientiert. Erwartungsgemäß wird das Resultat der Arbeit eines Künstlers ausgestellt. Künstlerische Produktion wird demnach als ein Beitrag für ein Publikum aufgefasst. Dies spiegelt allerdings nur einen Teil der tatsächlichen Rolle von KünstlerInnen als aktive Co-ProduzentInnen in diversen Bereichen des Kunstfeldes wieder. Institutionskritik war oder ist zum Teil auch ein Ausdruck von Unzufriedenheit damit, vorgefertigte Strukturen kommentarlos zu bedienen, auch wenn sie als problematisch angesehen werden. Darüber hinaus ist Institutionskritik nicht nur ein von KünstlerInnen praktizierter Ansatz. Sie ist auch fester Bestandteil von Lehrplänen in Kuratorenprogrammen und Universitäten. Inzwischen sitzen KuratorInnen, die in den Neunzigern zum Beispiel im Whitney Program gelernt haben, in Museen und Kunsthallen. Mich interessiert es, auch in der strukturellen Arbeit von Institutionen eng mit KünstlerInnen zusammenzuarbeiten, das heißt KünstlerInnen in Planungsformate mit einzubeziehen. Auch, damit die Institution sich nicht nur mit den Erwartungen von Sponsoren, Politikern und diversen Öffentlichkeiten auseinandersetzt, sondern zunächst einmal die Voraussetzungen für künstlerische Arbeit bestmöglich erfüllt. Diese Zusammenarbeit kann auf der Ebene einer Ausstellungsplanung stattfinden, aber eben auch in institutionsbildenden Prozessen. Hier tut sich eine Chance auf für neu entstehende Institutionen, deren Profil noch nicht determiniert ist.
Sind Modelle wie das migros museum für gegenwartskunst in Zürich auch in Deutschland denkbar?
Heike Munder, Direktorin, MiGros museum, Zürich
1. Gründen Sie ein Unternehmen als Genossenschaft und führen Sie ein Prozent des Umsatzes an Kultur ab.
2. Dieses Geld aktivieren Sie für Literatur, Theater, Musik, Medien, Kunst, Bildung und Soziales und vergessen Sie dabei nicht, jährlich eine gewisse Summe für eine Kunstsammlung bereit zu stellen.
3. Eröffnen Sie ein Museum, wenn ausreichend Kunst für ein zwischen Sammlungs- und Wechselausstellungen alternierendes Programm vorhanden ist.
4. Forschen, bewahren, vermitteln und produzieren Sie. Genießen Sie ihre Freiheit. Sie haben keinen Vorstand, Freundeskreis oder ähnliches zu bedienen.
Die Frage der Übertragung des Konzepts des migros museum für gegenwartskunst in Zürich an andere Orte entscheidet sich darüber, ob sich solche, vom Vertrauen der Gesellschaft getragene, klassisch mäzenatische Finanzierungen an anderer Stelle realisieren lassen. Diese von Instrumentalisierung befreite Kunst mit gesellschaftlichem Bildungsauftrag ist ein Stück realisierter und erhaltenswerter Utopie.
Wie wichtig ist der Aspekt des Räumlichen für eine Kunsthalle?
Juliane Rebentisch, Philosophin und Kritikerin
Frage zurück: „Aspekt des Räumlichen“ wovon? Der Kunsthalle selbst oder der in ihr präsentierten Kunst? Wäre die erste Frage gemeint, die nach der Wichtigkeit, die dem konkreten Ausstellungsraum für den Betrieb einer Kunsthalle zukommt, so müsste die Antwort wohl auf Aspekte von dessen architektonischer Gestaltung eingehen: und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Repräsentativität nach außen wie hinsichtlich ihrer Funktionalität nach innen. Dass dies wichtige Fragen für eine Kunsthalle sind, liegt auf der Hand. Das auszuführen sollte man indes besser andere fragen. Ist jedoch die zweite Frage gemeint, die nach der räumlichen Dimension der Kunst selbst, so wird die Frage erst dann zu einer für eine Kunsthalle in einem signifikanten Sinne wichtigen Frage, wenn man den Umstand in den Blick nimmt, dass die avancierte Kunst heute immer einen Installativen Aspekt hat. Denn das gilt inzwischen auch für die traditionellen Formate wie Malerei und Skulptur: die Exposition im Raum tangiert auch hier die Bedeutung der Exponate selbst. Das aber heisst, dass der Umgang mit dem konkreten Ausstellungsraum zunehmend explizit in den Kompetenzbereich der Künstlerinnen und Künstler selbst fällt: Er ist kein neutraler Hintergrund mehr, vielmehr ist er längst zum künstlerischen Material geworden. Dieser Entwicklung hat eine Kunsthalle in ihrer Praxis Rechnung zu tragen. Das betrifft die notwendige Offenheit gegenüber formalen und inhaltlichen Interventionen in den Raum der jeweiligen Institution ebenso wie den Umgang mit den neuen Reibungszonen zwischen künstlerischer und kuratorischer Praxis sowie die vermittelnde Rolle, die der Ausstellungsarchitektur in diesem Zusammenhang zukommt. Solche kunstpraktisch und -theoretisch interessanten Aspekte eines raum-reflexiven Kunsthallen-Alltags könnten vielleicht in weiteren, etwas konkreteren „Fragen des Tages“ diskutiert werden.
Kann eine Kunsthalle eine europäische Dimension entwickeln?
Beatrix Ruf, Direktorin Kunsthalle Zürich
Ja klar, fällt einem als erstes natürlich ein. Und dann wird es auch schon schwierig. Eine Kunsthalle, so wie diese Art von europäischem Kunstinstitut bis anhin mit diesem Begriff gefasst wurde, hat meist internationale Kunst an einem spezifischen Ort und einem spezifischen Kontext einer Stadt, einer Kunstszene zur Diskussion gestellt. Wenn man den Standort und damit auch den Bezug zu einem Ort, einer städtischen Situation, einem lokalen Kontext von Köln oder Bonn oder Berlin und so weiter auf den Standort Europa ausweitet, dann versteht man wohl den Begriff des Standorts oder die Bedeutung des Lokalen in einem anderen Sinne – und positioniert das Zusammenspiel der Institution mit ihrem Kontext in einem kulturell und politisch weiter gefassten Umfeld. Eine Fragestellung, die sich ändert, ist dann vielleicht: Was bedeutet Internationalität (der Kunst) in Bezug zu Köln, und nun neu, was bedeutet Internationalität (der Kunst) in Bezug auf Europa. Vielleicht ist aber die schwierigste Frage dann immer noch: Wie europäisch ist Köln?
Warum gibt es in größeren Städten wie London, Berlin oder New York keine Kunsthallen?
Edgar Schmitz, Künstler und Autor
Ich bin nicht so sicher, was Berlin, Paris oder New York angeht, wo die Bedingungen spezifisch sind, aber London ist mit Sicherheit durch seine hybride Landschaft kultureller Institutionen in öffentlichen, privaten und kommerziellen Sektoren und den Rückkoppelungen, die zwischen ihnen produziert werden, definiert (oder besser gesagt: dadurch undefinierbar). Was aus dieser Melange hervorgebracht wird, ist nicht nur ein großes Angebot unterschiedlicher Arbeitsbedingungen, sondern auch eine Vielzahl von Publikumsgruppen und Sichtbarkeit. Ihre Dynamiken fließen ineinander über. Darin ist kein Platz mehr für kulturelle oder politische Einflussnahme oder touristisches Vermarktungspotenzial, das mit einer Kunsthalle als exklusiver Träger kultureller Produktion in Verbindung gebracht wird. Jegliche Forderungen nach dem Status eines wiedererkennbaren privilegierten Akteurs verstummen angesichts der schieren Masse der verschiedenen Ausprägungen. Ihre Bedingung wird immer das „plus eine“, „eine mehr“, „schon wieder eine“ sein (was letztlich eine interessante Position für eine Kunsthalle sein könnte).
WELCHE RISIKEN BIRGT DIE GLOBALE VERNETZUNG VON MEDIEN FÜR DIE REZEPTION VON KUNST?
GEORG SCHÖLLHAMMER, CHEFREDAKTEUR SPRINGERIN & DOCUMENTA 12 MAGAZINES, WIEN
Sigmund Freud hat einmal gesagt, eine Hungersnot kann man nicht durch das Austeilen von Speisekarten stillen. Das ist ein sehr schönes Bild über das Verhältnis von Texten zur Wirklichkeit. Oft verstellen Ausstellungsmacher den Besuchern das Sehen der Kunstwerke tatsächlich durch unnötige Texte; sie verstellen eine unmittelbare und für jedermann zugängliche Erfahrung. Und allzu oft wird Kunst natürlich auch dazu verwendet, eine These, ein Thema, die kuratorlsche Idee zu illustrieren. Da wird die Kraft der Kunst. die ja gerade auch in der Uneindeutigkeit, in der Widersprüchlichkeit und im Eigensinn der Bilder liegt, dann als etwas dargestellt, das man nach einer Gebrauchsanweisung lesen kann. Dagegen wehren sich nicht nur gescheite AusstellungsbesucherInnen zu Recht, sondern auch gute Kunstwerke. Aber es gibt da auch noch einen Satz von Picasso, der dem Spott einer seiner konservativen Kritiker einmal stolz entgegenhielt, mit seiner Kunst sei es wie mit dem Chinesischen – und niemand rege sich doch auf, wenn er einen chinesischen Text nicht schon beim ersten Hinschauen oder Zuhören verstehe. Um Ihre Frage anders zu beantworten: Man kann die Geschichte der Gegenwartskunst heute nicht mehr als Lokalberichterstatter zwischen New York und Köln oder London und Paris schreiben. Diese Idee von einer Gegenwartskunst, die von ein paar westlichen Zentren dominiert ist, beginnt sich zum Glück aufzulösen. Selbst New Yorks Szene wirkt gegenwärtig manchmal wie die einer Provinz. Heute gibt es viele Kunstzentren und die Kunst dort spricht ihre eigenen Dialekte. Darum haben wir die ExpertInnen für diese Dialekte – AutorInnen und Kritikerlnnen, Kuratorlnnen, schreibende KünstlerInnen, die vor Ort in den Redaktionen kleiner und großer Medien arbeiten – gebeten, gänzlich unabhängig von uns ihre eigene Sicht auf die zentralen Leitmotive der documenta 12 zu entwickeln und dann mit uns zu diskutieren. Gute Texte am richtigen Ort. in einer Publikation, In einem Katalog zum Beispiel, stören gar nicht.
WAS SIND DIE HERAUSFORDERUNGEN DES UNTERRICHTENS VON KRITISCHEM DISKURS?
SIMON SHEIKH, ASSISTENZPROFESSOR FÜR KUNSTTHEORIE UND KOORDINATOR CRITICAL STUDIES PROGRAM, ART ACADEMY MALMÖ
Für mich ist die Herausforderung, wie man kritische Theorie in das Denken künstlerischer Praxis implementieren kann, ohne dass das Eine das Andere illustriert. Dies verlangt Prozesse der Übertragung und Übersetzung mit all ihren Veruntreuungen und hoffentlich (gegen-?)produktiven Methoden.
INWIEWEIT MÜSSEN SICH NEU ZU GRÜNDENDE INSTITUTIONEN MIT VERÄNDERTEN GESELLSCHAFTLICHEN BEDINGUNGEN AUSEINANDERSETZTEN?
DIRK SNAUWAERT, DIREKTOR WIELS, BRÜSSEL
So eng wie möglich sollten sich Institutionen mit Gesellschaft und Wirklichkeit auseinandersetzen. Neue Institutionen sind die direkte, fast reflexartige Emanation einer gesellschaftlichen Veränderung. Sonst würde sich die Notwendigkeit einer neuen Antwort auf eine Situation nicht zeigen; die Instrumente und Institutionen der Tradition / Überlieferung würden genügen. Es ist essentiell, sich zu fragen, ob Bedingungen determinierend sind oder ob man sie auch verändern oder subvertieren kann und ob eine Institution da die richtige Antwort ist.
Warum sind diskurs-orientierte Ausstellungsräume offensichtlich wenig populär?
Bettina Steinbrügge, Künstlerische Leitung Halle für Kunst, Lüneburg
Gegenfrage: Sind sie es wirklich nicht? Was bedeutet eigentlich Popularität? Warum sollten diskurs-orientierte Räume überhaupt populär sein? Popularität wird mit Mehrheiten, Publizität oder Einschaltquoten identifiziert. Das kommt daher, dass Öffentlichkeit heute an Marktkriterien gemessen wird. Die Modi von Zugang und Artikulation werden durch die Modi von Warentausch und Konsum ersetzt. Simon Sheikh hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Aufklärung die Ideen des rational-kritischen Subjekts und der disziplinären sozialen Ordnung entwickelte, während diese Ideen mittlerweile durch die Vorstellung von Unterhaltung ersetzt worden sind. Diskurs-orientierte Räume können und sollen dies nicht leisten. Sie haben vielmehr die Aufgabe, sich den Prinzipien der Kunstmarkts und der Eventkultur zu entziehen. Gute Ideen brauchen zumeist länger, bevor sie sich entwickeln und vor allen Dingen bevor sie sich im allgemeinen Denken durchsetzen. Popularität dagegen wird über Schnelligkeit generiert, was nicht das Ziel einer kritischen Praxis sein kann, die mit dem common sense und der doxa bricht. Deshalb ist das Populäre auch häufig mit Kurzlebigkeit verbunden. Popularität zu messen ist sehr schwierig, da sie zumeist von einem unspezifischen Publikum ausgeht. Das Terrain der „öffentlichen“ und damit auch „populären“ Sphäre ist jedoch imaginär. Die Idee der universellen bürgerlichen Öffentlichkeit ist ein historisches Konstrukt, und es stellt sich die Frage, ob diese überhaupt jemals als etwas anderes denn als Projektion existiert hat. Letztlich kann es nur darum gehen, partikulare Öffentlichkeiten herzustellen. Ich halte das Nicht-Populäre für einen wichtigen Ausgangspunkt für eine Diskussion mit nachhaltiger Wirkung. Es ist übrigens nicht offensichtlich, dass diskurs-orientierte Räume wenig populär sind, da statistisch gesehen Räume wie zum Beispiel die Generali Foundation in Wien oder die Kunst-Werke in Berlin oder Veranstaltungen wie die letzten documenten angesichts der durchschnittlichen Besucherzahlen und der medialen Präsenz ein durchaus großes Interesse hervorrufen. Auch hier wieder: Ab wann ist etwas messbar populär? Kriterien bitte!
IST DIE VORSTELLUNG VON INTERNATIONALITÄT (IN) DER KUNST EIN MYTHOS?
BARBARA STEINER. DIREKTORIN GALERIE FÜR ZEITGENÖSSISCHE KUNST, LEIPZIG
Als wir Anfang 2003 mit dem zweijährigen Forschungsprojekt „Kulturelle Territorien“ begonnen haben, wurde von vielen Seiten eine Marginalisierung unseres inzwischen international etablierten Hauses befürchtet. Dass wir die Internationalisierung dermaßen auf’s Spiel setzten und setzen, wird uns, auch zwei Jahre später noch, vorgeworfen. Die Programmatik der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK) war, seit den Gründungstagen, deklariert international, wiederholte jedoch auch (unhinterfragt) die tradierte Westbindung dieses Begriffs. Kunst aus dem früheren Ostblock schien hingegen ideologisch belastet und nur so weit akzeptiert als sie sich In diese Vorstellungen von „Internationalität“ einpassen ließ. Das Projekt „Kulturelle Territorien“ widmete sich nun – auch vor dem Hintergrund der Gründungsgeschichte der Galerie, explizit und von vornherein zeitlich begrenzt, den politischen und ökonomischen Implikationen von Kultur und ihrer territorialisierenden Macht. Während im ersten Jahr Klischeevorstellungen, Stereotypen und Projektionen in Zusammenhang mit der Konstruktion „Osteuropa“ thematisiert wurden, verfolgten wir im zweiten und dritten Jahr gezielt Schwerpunktthemen, die nicht mehr unabhängig von globalen Einflüssen gesehen werden können. Von der Ökonomie, der Identität stiftenden Rolle der Medien, der Raum schaffenden Macht von Sprache über Toleranz beziehungsweise Intoleranz, Migration und Raumvertellungen reichte die Spannweite der künstlerischen Untersuchungen. Dabei haben KuratorInnen und KünstlerInnen mit verschiedenen kulturellen Erfahrungen und Prägungen eng zusammengearbeitet Ein kleiner Hinweis an dieser Stelle: Die Eingeladenen kamen nicht ausschließlich aus post-kommunistischen Nachfolgestaaten. Die Wucht der Kritik in Bezug auf unsere programmatische Ausrichtung und vor allem ihre stereotype Nachhaltigkeit bis zum heutigen Tag hat mich überrascht, arbeiten wir doch schon längst wieder (auch) mit Künstlerinnen, die alle geforderten Eckdaten von „Internationalität“ erfüllen. Ihre Arbeiten werden in ökonomisch patenten und politisch einflussreichen Teilen der Welt gezeigt, diskutiert, gehandelt und gekauft. Jedoch kooperieren wir auch mit Künstlerinnen, die nicht oder kaum in diesen hegemonialen Netzwerken auftauchen und nicht weniger in einem national übergreifenden Austausch stehen. Von welcher Internationalität sprechen wir also? Der Ruf nach Internationalität bedeutet im positiven Sinn ein Versprechen. die lokale / nationale Enge zu durchbrechen. Er strebt einen geistigen und materiellen Austausch jenseits nationaler Grenzen an und setzt auf Aufgeschlossenheit und Weltläufigkeit. Die Forderung nach einer internationalen Kunst ist einerseits Ausdruck einer Sehnsucht nach einer grenzübergreifenden Wertegemeinschaft, verbirgt jedoch andererseits deren hegemonialen Charakter. Wir haben 2003 begonnen. die spezifische Gründungsgeschichte der GfZK als Ausgangspunkt für die neue programmatische Ausrichtung zu nehmen um über ihre Legitimation, ihre Konstruktion, ihre Funktion und Rolle zu sprechen, und eine Debatte über die „Natur von Institutionen“ zu beginnen. Auseinandersetzungen mit Vorstellungen von „Internationalität“ gehören beinahe zwangsläufig dazu. Auf die Frage „Ist die Vorstellung von Internationalität (in) der Kunst ein Mythos?“ antworte ich mit einem klaren Ja. Eine – im utopischen Sinn faszinierende – gesellschaftliche Konstruktion wird zur verbindlichen Tatsache erklärt, und, mit Roland Barthes gesprochen, Geschichte zur Natur.
WELCHE MÖGLICHKEITEN BIETET DIE EIGENE AUSSTELLUNGSHALLE IN ABGRENZUNG ZUR DAUERLEIHGABE EINER PRIVATEN SAMMLUNG?
JULIA STOSCHEK, UNTERNEHMERIN UND KUNSTSAMMLERIN, DÜSSELDORF
Grundsätzlich bieten mir meine eigenen Sammlungsräume eine weitgehende Freiheit. Unter anderem auch die Freiheit, das auszustellen, was ich möchte, zum Beispiel bisher noch nicht fest etablierte Künstler. Dass Ich diese Freiheit auch öffentlich zugänglich mache, ist mir dabei ein persönliches Anliegen und ein Angebot an Andere, meine Entscheidungen interessiert und kritisch zu begleiten. Die Aufgaben und vor allen Dingen auch die Pflichten eines öffentlichen Museums sind andere als die eines privaten, und ich würde mir wünschen, dass die öffentlichen Häuser mir den finanziellen Mitteln ausgestattet würden, die es ihnen ermöglichen, ihre klassischen Aufgaben, nämlich zu sammeln, zu bewahren, zu forschen und
auszustellen, angemessen erfüllen zu können.
Wie wichtig ist ein tatsächlicher Ort in einer Stadt für eine Kunstinstitution?
Aneta Szylak, Direktorin Wyspa, Institute of Art, Danzig
Orte sind Katalysatoren. Räumlichkeiten sind ausschlaggebend für das Profil und die Botschaft einer Institution. Natürlich nur, wenn man wirklich einen Raum haben will. Einen Raum zu haben kann auch schnell zur Bürde werden, in künstlerischer wie auch ökonomischer Hinsicht. Wenn wir aber annehmen, dass das Gebäude mit dem Begriff der Institution verknüpft ist, ja, dann ist der Ort wichtig. Räumliche Beziehungen und die Kontextualisierung innerhalb eines städtischen Gefüges scheinen zu den am stärksten definierenden Faktoren einer Kunstinstitution zu zählen. Den Ort zu wählen (wenn man die Wahl hat), is dann nicht nur die Suche nach einer attraktiven Räumlichkeit in der Stadt, sondern beeinflusst auch, was man später tatsächlich dort tun wird. So etwas wie eine neutrale Räumlichkeit gibt es nicht. Man kann die Institution aber auch als von jeglicher Verortung befreites, frei flottierendes Projekt begreifen. Leicht beweglich, schnell neu zu arrangieren, schwieriger festzulegen. Es ist billiger, überraschender, wahrscheinlich sexier. Wenn man weiß, wie man es anstellt, nicht in festen und definierten räumlichen Verhältnissen zu arbeiten. Das verändert die Botschaft einer Institution komplett. Keine räumliche Definition zu haben, ist auch eine Definition.
SPIELT DIE DISKUSSION UM ZENTRUM UND PERIPHERIE HEUTE NOCH EINE ROLLE?
SUSANNE TITZ, DIREKTORIN MUSEUM ABTEIBERG, MÖNCHENGLADBACH
Faktisch ja. Denn sonst würde dieses Begriffspaar nicht so oft in den Mund genommen. Doch glücklicherweise nicht mehr mit dem mitleidig-arroganten Ton, der früher meist Metropole und Diaspora meinte. Das hängt einerseits damit zusammen, dass sich ein Wissen um die Vergänglichkeit eingestellt hat. Aus Zentren wurden Peripherien, manch unscheinbarer Ort übernahm plötzlich Bedeutung, nichts gilt für die Ewigkeit. Andererseits ist aus der so genannten Peripherie ein ziemlich attraktiver Aufenthalts- und Produktionsort geworden, dessen Qualität in billigeren Mieten, größerer Freiheit oder persönlicher Ruhe liegen kann und dessen Output früher oder später in die so genannten Zentren dringt und diese unter Umständen in Frage stellt. Das moderne Zentrumsdenken – von Paris nach New York, von Köln nach Berlin – ist bereits in den 1960er und 1970er Jahren durch periphere Orte zum Beispiel in Belgien, Deutschland und den Niederlanden mächtig konterkariert worden – dass man bei Metropolbegriffen blieb, erklärt sich auch aus ihrem Mythos. Erst in den 1990er Jahren endlich wurde Los Angeles entdeckt, dazu kamen zum Beispiel Glasgow und Warschau auf die Landkarte, ebenso Wohn- und Arbeitsorte von Künstlern in Brüssel oder Rotterdam, kuratorische Projekte und neue Ausstellungsadressen in Ljubliana. Danzig, Lüneburg oder Luxemburg, die allesamt zu verstärktem Reisen und permanenter Aufmerksamkeit für neue,meist unbekannte und fremde Orte führten. Eine Peripherie nach der anderen zum neuen Zentrum zu erklären, wäre sicherlich die falsche Entwicklung. Unter Uniständen bleiben die belgischen Ardennen eine Region des Ardenner Schinkens, die Polder in den nördlichen Niederlanden eine Inspirationsquelle für hochprozentigen Genever. Der entscheidende Punkt liegt in der erweiterten Wahrnehmung von Kultur, die sich vor den gegenläufigen Zeichen von nach wie vor zentristischen Marketing- und Marktideologien als ein konsequent widerspenstiges und überraschendes Moment erweisen sollte. Daher gilt: „Watch out“ in der europäischen Kunsthalle und vermeidet „to be centralistic“ in der Betrachtung dessen, was kulturell in Europa und auch anderswo geschieht.
IST DER KUNSTMARKT DEM INSTITUTIONELLEN KUNSTBETRIEB IM HINBLICK AUF INTERNATIONALE VERNETZUNG EINEN SCHRITT VORAUS?
NICOLAS TREMBLEY, KURATOR UND GALERIST, PARIS
Die Frage ist weit gefasst und sollte konkretisiert werden: Was genau bedeutet internationales Netzwerken und für wen (Publikum, Künstlerlnnen, Kuratorlnnen, Sammlerlnnen)? Sollen wir „Netzwerk“ als ein aktuelles Wissen, als Information über den neusten Stand der Kunst verstehen? Wenn ja, können der Kunstmarkt und das institutionalisierte Kunstsystem als zwei getrennte Einheiten aufgefasst werden? Mit Sicherheit nicht. Der Kunstmarkt, der innerhalb der Netzwerke des Galeriesystems anzusiedeln ist, spielt seine Rolle im Entdecken und Ausstellen von Kunst traditionellerweise Hand in Hand mit den Institutionen. Es ist eine Hin- und Rückbewegung: Kunst kehrt mit einem Wertzuwachs von den Institutionen auf den Markt zurück. Aber die Ziele des Kunstmarktes sind andere als die der Institutionen, und wenn es stimmt, dass diese manchmal langsamer im Netzwerken sind, hängt dies auch damit zusammen, dass sie als intellektuelle Beobachter fungieren. Das Verdauen und Analysieren der Informationen braucht mehr Zeit. Der Kunstmarkt hingegen arbeitet voranging mit kleinen Informationseinheiten und kann daher effektiver vernetzen – wie ein Oktopus. Aber was sagt das aus? Nicht viel. Der Fall Bilbao war eine wichtige Lehre dafür, wie auf eine Institution angewandte Marketingstrategien zu einem leeren Gehäuse werden können. Er bewog die Welt zu verweigern, dass Kunstinstitutionen. entsprechend der Informationen, die sie weitergeben, zu Shopping-Malis werden – Netzwerken, die sich nicht mehr wirklich mit Kunst befassen. Kunstinstitutionen müssen neue Wege der Vernetzung finden, die sich von denen des Markts unterscheiden.
Ist eine Kunsthalle in der Lage, einen kritischen Gegendiskurs zum Kunstbetrieb zu etablieren?
Jan Verwoert, Kritiker
Einem kritischen Diskurs Raum zu geben, liegt für eine Kunsthalle bestimmt im Reich des Machbaren. Kritische Diskurse brauchen Auftragsorte. Nicht umsonst bezeichnet der griechische Begriff „kriterion“ nicht nur das Richtmaß eines Urteils, sondern auch den Ort, an dem der Prozess der Urteilsfindung stattfindet (den Gerichtsplatz). Der Ort Kunsthalle kann also Kriterion sein. Dennoch bleibt die Frage, ob es in der Macht der Institution liegt, Diskurse zu begründen, oder ob nicht eine Institution gerade dann, wenn sie sich als Austragungsort eines Diskurses zur Verfügung stellt, ihre Macht im Sinne einer idealen Gastfreundschaft einschränken sollte. Eigentlich kann die Kritik nur von Gästen, also von außen, kommen. Aber Gäste kann man nicht „etablieren“, nur einladen. Ob sie dann kommen, liegt bei ihnen. Die Kunsthalle ist also auf einen Diskurs angewiesen, von dem sie nie sicherstellen kann, ob er stattfinden wird, selbst wenn es für sie machbar ist, ihm einen Ort zu geben. Dass so ein Diskurs etwas gegen die Betriebsblindheit des Kunstgeschehens ausrichtet und nicht selbst in der allgemeinen Betriebsamkeit aufgeht, lässt sich ebenso wenig im Voraus sicherstellen. Vielleicht kann Diskurs ja genau dadurch nicht zu Betrieb werden, indem man er Etablierung institutioneller Routinen durch die Einladung ungewohnter Gäste immer wieder neu entgegenwirkt.
WELCHE RAHMENBEDINGUNGEN SIND FÜR DIE PRÄSENTATION UND VERMITTLUNG ZEITGENÖSSISCHER KUNST ESSENTIELL?
ASTRID WEGE, MITGLIED PROGRAMMTEAM EUROPEAN KUNSTHALLE
Auch wenn Präsentation und Vermittlung im Sprachgebrauch gerne in einem Atemzug genannt werden: Sie meinen Unterschiedliches. Nimmt man den Begriff der Präsentation, ist es meiner Ansicht nach grundlegend, ihn nicht nur auf bereits Vorhandenes zu beziehen beziehungsweise die Institution dem „Präsentierten“ gegenüber als etwas Sekundäres zu begreifen. Entscheidend ist, inwieweit es ihr auch ein Anliegen ist, in engem Austausch mit KünstlerInnen und Kulturproduzentlnnen neue Wege der Produktion und der (Diskurs) Kultur zu beschreiten und in diesem Sinne Denk-, Handlungs- und Gestaltungsräume zu schaffen. Was die Vermittlung betrifft, ist es, auch wenn dies festzuhalten fast ein Gemeinplatz ist, ausschlaggebend, wo man sich innerhalb des künstlerischen Feldes verorten, welches Publikum man mit welchem Angebot ansprechen möchte. Wichtig ist dabei insbesondere jedoch die Offenheit und die Aufmerksamkeit, die implizit immer vorhandene Vorstellung des „Publikums“ durch das tatsächliche Publikum in Frage stellen zu lassen und dies in den eigenen Kommunikationsformen aufzugreifen. Dass für die Entwicklung und Realisierung solcher Überlegungen und Aktivitäten inhaltliche Unabhängigkeit, eine verlässliche finanzielle Ausstattung und Kontinuität essentiell sind, versteht sich von selbst.
Wäre eine dezentralisierte Kunsthalle eine sinnvolle Konsequenz aus dem europäischen Anspruch an neue Kunstinstitutionen?
Axel John Wieder, Künstlerischer Leiter Künstlerhaus Stuttgart und Buchhändler Pro qm, Berlin
Der Begriff des Europäischen bezeichnet einerseits ja einen konkreten Bezug auf eine politische Gemeinschaft. So könnte der europäische Anspruch, ähnlich wie nationale Präfixe zur Kennzeichnung von nationalen Institution, etwa für das Deutsche Historische Museum, als Repräsentationsauftrag einer Institution verstanden werden. In diesem Sinne wäre die Europäische Union die entsprechende Bezugsgröße, die eben in Köln – warum auch immer, vielleicht wegen der geografischen Lage – oder an einem anderen Ort durch eine Kunsthalle kulturell mit Sinn gefüllt werden könnte. Die Antwort auf die Frage, ob diese Institution nicht eher dezentral organisiert sein müsste, hinge dann von der jeweiligen Konzeption Europas ab, die eben auch die Frage der Repräsentation Europas mit einschließt, oder anders gesagt, die Konzeption einer europäischen Institution sagt immer auch schon etwas darüber aus, wie man sich Europa als politische Entität vorstellt. Andererseits lässt sich der Bezug auf Europa im Sinne eines Größenmaßstabes lesen. Das Gegenteil wäre vermutlich eine regionale Kunsthalle. Als Institution von gesamteuropäischer Bedeutung würde eine europäische Kunsthalle ein größeres Publikum ansprechen und nicht zuletzt einen relevanten Standortvorteil darstellen. Sie dezentral zu organisieren würde diesen Mechanismus nicht unbedingt durchqueren, sondern unter Umständen sogar noch verstärken, wie ähnlich auch die Flexibilität der Manifesta bislang ihren Festival-Charakter nicht verhindert, sondern vielmehr noch effektiver gemacht hat. Ein stabiler Standort könnte dagegen die Möglichkeit bieten, eine längerfristige Auseinandersetzung zwischen lokalen und europäischen Diskursen zu etablieren. Ich denke, dass sich die Konzeption einer auf Europa zielenden Institution zwischen diesen beiden Kraftfeldern orientieren muss, um weniger im Sinne einer eindeutigen Verortung, sondern vielmehr, um einen beispielhaften und konkreten Ort der Verhandlung bereitzustellen, auch was ihre Organisationsform betrifft. Im Idealfall stünden beide Optionen und alle Möglichkeiten zwischen diesen zur Verfügung, wie es ja in zeitgenössischen Institutionsformen, beispielsweise durch Kooperationen, bereits tatsächlich der Fall ist.
WELCHEN GESELLSCHAFTLICHEN ORT KANN EINE KUNSTHALLE HEUTE BESETZEN?
GESA ZIEMER, PHILOSOPHIN UND STELLVERTRETENDE LEITERIN INSTITUT FÜR THEORIE, HOCHSCHULE FÜR GESTALTUNG UND KUNST, ZÜRICH
Eine Kunsthalle kann Gesellschaften kritisch reflektieren, wie es zu bestimmten Zeiten bestimmte Universitäten taten. Da es in den und um die Universitäten (zumindest im deutschsprachigen Raum) sehr ruhig geworden ist, fehlen Orte des öffentlichen, konträren Diskurses. Es sind Orte der Kritik, wobei man sich genau überlegen muss, was Kritik als die Kunst des Beurteilens heute überhaupt noch bedeutet. Ich wünsche mir, dass die Kritik aus ihren super-marginalisierten Räumen heraustritt und ihren Spezialistenslang ablegt. Sicher ist, dass kritische Reflexion in einer Kunsthalle niemals akademisch geführt werden kann, sondern in verschiedenen Medien, mit den unterschiedlichsten Menschen, immer in Verbindung mit der Kunst-, aber auch Alltagspraxis. Ganz banal formuliert: Bei der Programmflut künstlerischer und diskursiver Aktivitäten, die mich täglich überschwemmt: Wann bemerke ich, dass eine Kunsthalle nicht nur ein Ort der Kunst, sondern auch ein gesellschaftlicher Ort ist? Wenn es den Kuratorlnnen gelingt, zu einem bestimmten Thema (gar These – ja, ich freue mich über Thesen!), vielversprechende Konstellationen herzustellen – zwischen Kunst, Theorie, Politik, Wirtschaft etc. Wenn nicht über Kunst, sondern über Gesellschaft nachgedacht wird.