Donnerstagabend, kurz vor Mitternacht. Ich schließe die Haustür hinter mir ab, setze meine Kopfhörer auf und verlasse das Haus. Eine wundervolle Sommernacht empfängt mich auf der Straße. Nach den ersten paar Metern strecke ich die Arme aus und genieße die warme Luft. Es fühlt sich fast so an, als ob sie mich tragen könnte. Selbst durch meine Sandalen kann ich spüren, wie der Asphalt die gespeicherte Hitze des Tages nun angenehm in den klaren Himmel aufsteigen lässt. An der ersten Häuserecke biege ich, ohne wirklich darüber nachzudenken, nach rechts ab. Der Weg führt mich die Keinergasse entlang, hinab zum Donaukanal. Wie jeden Abend streife ich, ganz eines Katers gleich, durch meinen Bezirk. Diese Nachtspaziergänge mache ich täglich. Meist zehn Kilometer pro Tour. Dabei lasse ich mich intuitiv leiten, entdecke Hinterhöfe, Schleichwege, vergessene Plätze. Ich treffe auf Nachtschwärmer, Obdachlose, späte Fahrradlieferboten, Rettungskräfte im Einsatz und auf die unterschiedlichsten Tiere. Als ich gerade die Erdbergstraße überquere, klingelt mein Telefon. Eine Freundin, mit der ich eigentlich lose für den Abend verabredet war, meldet sich unerwartet doch noch. Sie ist mit dem Fahrrad auf dem Heimweg. Wir treffen uns spontan am Steg, der den Dritten mit dem zweiten Bezirk über den Kanal hinweg verbindet. Hier gibt es entlang des Flusses noch grüne Uferbereiche mit Fahrrad- und Fußgängerwegen, eingezwängt zwischen zwei mehrspurigen Straßen. Auf der Seite des zweiten Bezirks ist die Promenade in die Jahre gekommen. Der Weg hat Schlaglöcher. Einige Straßenlaternen leuchten nicht. Im Halbdunkeln sitzen Männer auf desolaten Parkbänken und kiffen. Meine Freundin und ich spazieren flußaufwärts, Richtung Stadtzentrum. Ab der Franzensbrücke wird der Donaukanal urban. Das Ufer ist gemauert. Es gibt Treppen zum Fluß und viele Graffiti. Wir lassen uns hier nieder, sitzen am Kai, die Beine baumelnd. Das ist unser Stammplatz. Die Atmosphäre ist an diesem Ort noch entspannter, da die Gastronomiemeile erst ein Stück weiter, rund um den Schwedenplatz, beginnt. Neben uns: viele junge Menschen, die trinken, Musik hören, eine gute Zeit haben. Ein fliegender Händler radelt vorbei, bietet Getränke zum Verkauf an. Die Gruppe neben uns, bemerkt ihn spät. Sie rufen ihm hinterher, dass er zurückkommen solle. Sie wollen Bier kaufen. Diese Aktion lenkt meine Aufmerksamkeit auf sie. Mein Blick trifft sich mit dem eines der Durstigen. Wir halten den Blick. Ein Lächeln. Eine lange Sekunde. Eine Handbewegung des Hallo Sagens. Ein Flirt beginnt. Der junge Mann kommt auf uns zu. Wir reden ein wenig. Da sein Englisch nicht so gut ist, fragt er mich, ob ich Französisch spreche. Wir wechseln die Sprache. Er lebt in Nice. Ursprünglich kommt er aber nicht von dort. Er sei aus seinem Heimatland quasi geflohen, weil man dort als Homosexueller kein sicheres Leben haben könne, erzählt er mir. Besonders so ein Leben: er greift zu seinem Telefon, zeigt mir Fotos von sich in Drag. „If you can't love yourself, how in the hell you gonna love somebody else?“ zitiert er RuPaul mit hörbar französischem Akzent. Wir lachen und schwelgen in DragRace Erinnerungen. Plötzlich wird er wieder ernst: „Ich vermisse meine Familie. Aber Georgien ist ein sehr religiöses Land, dort war kein Platz für mich“. Als ich Georgien höre, schießt mir The Messenger durch den Kopf. Ich frage ihn, ob es für ihn ok wäre, sich meine Nachricht anzuhören. Er lächelt sanft und nickt. Schon nach den ersten drei Wörtern bekomme ich ein „Mais non!“ zu hören. Kein Georgisch. Das klinge eher nach Armenisch oder vielleicht Kurdisch. Ich bedanke mich. „Can I get an amen?“ antwortet er darauf kokett. Ein weiteres RuPaul Zitat. Mit Geste und in energetisch ansteckender Sprache. Wir lachen wieder. Meine Freundin, die während des Gesprächs diskret in ihrem Instagram-Algorhythmus abgetaucht war, verabschiedet sich. Ich bleibe. Shante, you stay. Sashay away. Let the music play. Wir tanzen.